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09/30/2024 | News release | Archived content

„Ich habe mich gehört gefühlt“ – Maßgeschneiderte Diabetes-Versorgung statt Versorgung nach Lehrbuch

Jean Langford ist eine Diabetes-Fürsprecherin aus Irland, die gegenwärtig auch eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin absolviert. Sie ist Mitglied des YOURAH-Netzwerks der International Diabetes Federation Europe und wurde im Alter von 11 Jahren mit Diabetes diagnostiziert. Ihre Familie war sich der Ernsthaftigkeit von Diabetes nur zu gut bewusst, da ihr Großvater und ihr Onkel beide mit dieser Krankheit gelebt hatten. Für sie hatte es bedeutet, dass sie ein strenges und unflexibles Regime befolgen mussten, ohne die heute verfügbaren Technologien und Behandlungen.

"Auch ich sollte ein allgemeingültiges Insulinregime befolgen - eine Diabetesversorgung nach Lehrbuch anstatt einer maßgeschneiderten Versorgung, die auf meine tatsächlichen Bedürfnisse im Alltag eingeht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich gut damit umgehen oder es an mein Leben anpassen sollte", erklärt Jean.

"Meine Eltern versuchten, die Dinge so normal wie möglich zu halten, und ich war abenteuerlustig. Allerdings ging es mir oft nicht gut, meine Blutzuckerwerte waren entweder sehr hoch oder sehr niedrig. Es war alles sehr reaktiv. Ich erhielt nur wenige Informationen darüber, wie alles funktionierte, obwohl meine Mutter und ich die täglichen Entscheidungen über meine Insulindosierung trafen. Ich habe das Gefühl, dass man uns nicht die nötigen Informationen anvertraute, um fundierte Dosierungsentscheidungen zu treffen. Eine ordentliche Diabetesaufklärung hätte einen großen Unterschied gemacht."

Zu jener Zeit befand sich Irland mitten in einem finanziellen Abschwung, und die Leistungsangebote waren davon besonders stark betroffen. Jean erinnert sich an Personalmangel und überlastetes Personal im Gesundheitswesen, das kaum Zeit hatte, Patienten zu unterstützen oder sie zusammenzubringen.

Abgekoppelt

"Als ich zur Universität ging, hatte ich mich von meiner Diabeteserkrankung abgekoppelt. Ich wollte mich damit einfach nicht auseinandersetzen, weil ich annahm, dass es mir damit nie gut gehen würde. Ich hielt meine Blutzuckerwerte oft hoch, um eine Unterzuckerung zu vermeiden, um normal zu erscheinen und um zu überleben. Ich wusste, dass sich das langfristig auswirken würde, aber damals habe ich das nicht damit in Zusammenhang gebracht, inwiefern meine Blutzuckerwerte meine Lebensqualität im Alltag beeinträchtigten."

Sie fügt hinzu: "Ich tat nur das Nötigste, um meinen Diabetes in den Griff zu bekommen und nicht ins Krankenhaus zu müssen, aber ich wusste nicht wirklich, was ich tat, und fühlte mich nie sehr wohl oder selbstsicher damit - es war ein ständiger Stressfaktor im Hintergrund."

Die Dinge veränderten sich völlig

Nach dem Studium zog Jean in eine andere Stadt und trat eine neue Stelle an. Da ich privat krankenversichert war, konnte ich dort eine bessere Diabetesversorgung in Anspruch nehmen, was die Dinge völlig veränderte. Ich hatte zum ersten Mal Kontinuität in der Versorgung, ich lernte mein Team kennen und sie mich. Ich bekam ein Flash-Glucose-Monitoring-Gerät [Gerät zur Blutzuckerbestimmung mit Hilfe eines im Subkutangewebe platzierten Sensors], mit dem man seinen Blutzuckerspiegel auf dem Handy oder einem Lesegerät überprüfen kann, ohne sich in den Finger stechen zu müssen. Das war unglaublich. Zum ersten Mal konnte ich Sport treiben, mich sicher fühlen und hatte mehr Kontrolle."

Jean sagt: "Ich habe mich gehört gefühlt. In der Ernährungsberatung wurde alles mit mir besprochen: meine alltäglichen Symptome und meine Lebensqualität, die Dehydrierung, der Brain Fog, meine Stimmung und sogar meine Beziehungen."

Jean hat jetzt eine Insulinpumpe, die alle paar Minuten winzige Mengen kurz wirkenden Insulins abgibt. Inspiriert von der Betreuung, die sie selbst erlebte, macht sie nun in Edinburgh eine Ausbildung zur Diätassistentin im schottischen Gesundheitsdienst.

"Alles findet am selben Ort statt - Termine mit dem Endokrinologen, dem Pflegepersonal, der Ernährungsberatung, HbA1c-Kontrollen, Augenuntersuchungen und sogar die Unterstützung durch einen Psychologen."

Ratschläge für Gesundheitsfachkräfte

Jeans Rat für Gesundheitsfachkräfte ist einfach: Wenn Sie mit Menschen sprechen, die an Diabetes leiden, sollte der erste Schritt darin bestehen, sie zu fragen, wie sie sich derzeit in Bezug auf ihre Diabeteserkrankung fühlen und wie sie sich eigentlich fühlen möchten. Dies könnte den Grundstein für den Versorgungsplan legen. Fragen Sie, ob sie psychologische Hilfe benötigen und ob die Technologie für sie funktioniert. Das ist wichtig, denn es gibt so viele Faktoren, die sich auf den Blutzuckerspiegel auswirken, und der dadurch entstehende Stress hat Auswirkungen darauf, wie gut man für sich selbst sorgen kann."

Innovation

Jean betont auch, wie wichtig laufende Innovation ist. "Die Menschen nutzen die Diabetestechnologie, um mit Diabetes zu leben. Damit die Menschen tatsächlich mehr Lebensqualität erleben, müssen die individuellen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Denn es gibt eben kein Patentrezept. Ich finde, dass meine Insulinpumpe manchmal nicht aggressiv genug ist, um die ganz normalen Schwankungen meines Insulinbedarfs zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Monat auszugleichen. Ich denke, die Algorithmen kommerzieller Pumpen müssen so entwickelt werden, dass sie sensibler auf verschiedene Lebensphasen und hormonelle Veränderungen reagieren."

Teambasierte Unterstützung

Jean ist mittlerweile Teil eines Pilotprojekts, bei dem ein Team von Betreuern, das selbst gelebte Erfahrungen mitbringt, Menschen mit Diabetes bei der Bewältigung ihres Alltags und bei der Beantwortung von Fragen hilft. Sie ist der Ansicht, dass eine solche teambasierte Unterstützung, bei der Menschen, die mit Diabetes leben, von Gesundheitsfachkräften unterstützt werden, in alle allgemeinen Gesundheitssysteme integriert werden sollte.

"Die meisten von uns sehen höchstens dreimal im Jahr einen Arzt, aber wir leben jeden Tag selbständig mit unserem Diabetes; daher kann diese Peer-Unterstützung einen großen Unterschied machen."

In ihrem Blog beschreibt Jean, was es für sie bedeutete, eine Online-Gemeinschaft von Menschen mit Diabetes zu finden. "Die Online-Gemeinschaft von Menschen mit Diabetes zu finden, hat meinen Fokus und meine Prioritäten komplett verändert. Ich bin zufällig auf diese Gemeinschaft gestoßen, weinte und schrie und erwartete die übliche Ablehnung, bei der ich mich ungehört und unverstanden fühlen würde, doch stattdessen wurde ich mit echtem Mitgefühl und ,es ist okay, wir verstehen dich' empfangen."

Die von Jean so geschätzte Patientenaufklärung und teambasierte Unterstützung bilden die Grundlage des in der jüngsten Publikation von WHO/Europa mit dem Titel "Therapeutische Patientenschulung: eine Einführung" erläuterten Ansatzes. Diese soll politischen Entscheidungsträgern und Angehörigen der Gesundheitsberufe dabei behilflich sein, eine wirksame therapeutische Patientenaufklärung für alle Patienten mit chronischen Erkrankungen zu gewährleisten. Ziel ist es nicht nur, Entscheidungsprozesse in Bezug auf die klinische Versorgung zu verbessern, indem die Patienten durch Aufklärung, Befähigung und Unterstützung eingebunden werden, sondern auch, ihnen zu einem sinnvolleren Leben zu verhelfen.

Hintergrund zum Thema Diabetes: Wozu haben sich die Mitgliedstaaten der WHO verpflichtet?

2022 haben sich die Mitgliedstaaten der WHO erstmals für die Festlegung globaler Zielvorgaben für Diabetes ausgesprochen, die Teil der Empfehlungen zur Stärkung und Überwachung von Diabetesmaßnahmen im Rahmen nationaler Programme für nichtübertragbare Krankheiten waren.

WHO/Europa und die International Diabetes Federation Europe haben sich darauf geeinigt, die Fortschritte zu beschleunigen, um diese globalen Diabetesziele bis 2030 zu erreichen oder zu übertreffen:

  • 80 % der mit Diabetes lebenden Menschen sollen eine ordnungsgemäße Diagnose erhalten.
  • 80 % von ihnen sollen über eine gute Kontrolle über ihren Blutdruck und Blutzuckerspiegel verfügen.
  • 60 % der Menschen mit Diabetes ab 40 Jahren erhalten Statine.
  • 100 % der Menschen mit Typ-1-Diabetes haben Zugang zu bezahlbarem Insulin und zu Blutzucker-Selbstkontrollen.